Wer heute durch die Gassen Nördlingens schlendert, vorbei an den wehrhaften Türmen der Stadtmauer, hinauf zur St.-Georgs-Kirche mit ihrem berühmten Daniel, ahnt kaum, dass dieser Ort vor fünfhundert Jahren im Zentrum einer geistigen Revolution stand. Hier, mitten im schwäbischen Ries, erhob ein Mann seine Stimme, der den Mut hatte, gegen alte Strukturen zu predigen und die Bürger auf einen neuen Weg zu führen: Matthias Wagemann. Sein Name mag im Schatten der Großen wie Luther oder Melanchthon verblasst sein, doch seine Rolle für Nördlingen ist unverkennbar. Um 1490 geboren und 1546 gestorben, prägte er entscheidende Jahrzehnte, die das Gesicht der Stadt für immer veränderten.
Die frühen Spuren Wagemanns verlieren sich im Dunkel der Quellen. Wahrscheinlich stammte er aus Schwaben oder Franken, möglicherweise aus einer bürgerlichen Familie, wie es für Prediger jener Zeit typisch war. Sicher ist: Er muss eine solide theologische Ausbildung genossen haben, vielleicht in Heidelberg oder Wittenberg, wo er mit den Ideen Luthers in Berührung kam. Um 1522 jedoch tritt er mit Macht in das Licht der Geschichte – in Nördlingen, wo der Stadtrat ihn auf eine neu geschaffene Predigerstelle an St. Georg berief.
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Es war die Zeit, in der die Reformation wie ein Sturm durch Europa zog. Seit Luther 1517 seine Thesen veröffentlicht hatte, begannen überall Menschen, den alten Glauben zu hinterfragen. In Nördlingen hatten schon die Karmeliter Martin Monninger und Caspar Kantz erste reformatorische Funken gelegt, doch es war Matthias Wagemann, der die Bewegung in feste Bahnen lenkte. Im Oktober 1522 stand er auf der Kanzel von St. Georg und sprach in deutscher Sprache, nicht mehr im Latein der Gelehrten. Er predigte, dass der Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt werde – Sola Fide. Er verkündete, dass allein die Schrift, die Bibel, Grundlage des Glaubens sei – Sola Scriptura. Und er führte das Abendmahl „in beiderlei Gestalt“ ein: Brot und Wein für alle Gläubigen, nicht mehr nur der Kelch für den Priester.
Diese Worte hallten wie Donnerschläge unter den Gewölben. Die Bürger, Kaufleute und Handwerker, die gewohnt waren, für Ablässe zu zahlen und die Heiligenverehrung mitzutragen, hörten plötzlich eine Botschaft, die zu ihrem Selbstverständnis passte: Freiheit, Eigenverantwortung und Nähe zu Gott ohne Vermittler. Die Predigten Wagemanns erfassten nicht nur die einfachen Menschen, sondern auch die Ratsherren. Mit klugen Argumenten und leidenschaftlicher Überzeugung brachte er sie dazu, den Schritt in die neue Lehre zu wagen.
Bereits 1523 begann Nördlingen, die Reformation offiziell zu verankern. Wagemann war der Motor dieser Entwicklung. Er gab der Stadt nicht nur Worte, sondern auch Strukturen. 1525 verfasste er eine Kirchenordnung, die das religiöse Leben auf eine neue Grundlage stellte. Die Liturgie wurde vereinfacht, deutsche Predigten und Gesänge hielten Einzug, Klöster wurden aufgelöst und ihre Güter der Stadt übergeben. In dieser Phase stand Wagemann im regen Austausch mit anderen Reformatoren – Martin Luther in Wittenberg, Zwingli in Zürich, Oekolampad in Basel. Auch Ambrosius Blarer aus Augsburg soll zu seinem Netzwerk gehört haben. Nördlingen war kein isolierter Ort, sondern ein Knotenpunkt der neuen Bewegung.
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Doch die Reformation verlief nicht ohne Widerstände. Bereits 1523 kam es zu Rückschlägen: deutsche Messen im Karmeliterkloster wurden wieder abgeschafft, und Wagemann musste erleben, wie katholische Autoritäten gegen ihn wetterten. Er kritisierte den Ablasshandel, die Möncherei und den Prunk der alten Kirche, was ihn zur Zielscheibe machte. Aber der Rat stand zu ihm. 1524/25 wurden die Klöster endgültig aufgelöst, ihre Einnahmen dienten nun der Stadt – ein klarer Sieg der reformatorischen Bewegung.
Seine Rolle blieb über Jahrzehnte prägend. Bis 1546 war Wagemann Hauptprediger an St. Georg, auch wenn ab 1535 mit Kaspar Löner ein weiterer evangelischer Theologe hinzukam. Unter seiner Leitung wurde Nördlingen zu einem Bollwerk des Protestantismus, dessen Einfluss weit über das Ries hinausstrahlte. Schon 1539 bekannte sich die Grafschaft Oettingen zur Reformation – angeregt durch das Beispiel Nördlingens.
Doch die Jahre waren nicht ohne Gefahr. Als Kaiser Karl V. in den 1540er Jahren versuchte, mit militärischer Gewalt die Reformation zurückzudrängen, geriet auch Nördlingen in Bedrängnis. Der Schmalkaldische Krieg brach aus, und die Stadt wurde Teil der protestantischen Allianz. In dieser Zeit, 1546, starb Matthias Wagemann. Ob durch Krankheit oder die Strapazen dieser unsicheren Epoche, bleibt unklar. Doch sein Tod fiel in die entscheidende Phase, als der Kaiser nach der Schlacht bei Mühlberg die Protestanten schwer traf.
Wagemanns Werk jedoch war nicht umsonst. Nördlingen blieb evangelisch und trug dieses Erbe durch Jahrhunderte. Auch nach dem Dreißigjährigen Krieg, der die Stadt verwüstete, blieb der Geist der Reformation lebendig. Und dieser Geist trägt noch heute die Handschrift jenes Mannes, der im Oktober 1522 zum ersten Mal vom Kanzellicht in die Augen der Bürger blickte.
Warum ist Matthias Wagemann erwähnenswert? Weil er zeigt, wie eine einzelne Persönlichkeit den Lauf einer Stadtgeschichte prägen kann. Während Luther die Welt veränderte, war es Wagemann, der in Nördlingen den Glauben erneuerte. Er verband theologische Tiefe mit politischem Geschick, Mut mit Ausdauer. Seine Kirchenordnung, seine Predigten und sein Wirken machten aus Nördlingen nicht nur eine Freie Reichsstadt, sondern ein Zentrum des Protestantismus in Schwaben.
In der St.-Georgs-Kirche, wo er predigte, kann man noch heute stehen und sich vorstellen, wie seine Worte die Menschen ergriffen. Man mag die Schritte auf der Kanzel hören, das Raunen der Menge, das Beben einer Stadt, die bereit war, sich zu verändern.
Matthias Wagemann – vielleicht kein Name für die großen Geschichtsbücher, aber einer, der für Nördlingen Geschichte schrieb.
